Hemmnisse und Chancen bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention
Prof. Dr. Kurt Jacobs
Gliederung:
1. Die UN-Behindertenrechtskonvention als behindertenpolitischer Meilenstein und ein lebensqualitätssteigernder Aufbruch in eine neue Zeit
2. Hemmnisse bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention – thesenhaft formuliert
2.1 Verharren in einem antiquierten, das heißt überkommenen Menschenbild von Menschen mit Behinderung als Hemmnis
2.2 Hemmnisse auf der behindertenpolitischen Ebene
2.3 Nichtbeachtung der UN-Behindertenrechtskonvention bei Maßnahmen auf Grundlage der gültigen Sozialgesetzgebung als schwerwiegendes Hemmnis
2.3.1 Selbstbestimmtes Wohnen mit persönlicher Assistenz
2.3.2 Willkürliche Festsetzung des Kostensatzes für die Finanzierung einer Arbeitsassistenz im Rahmen einer beruflichen Integrationsmaßnahme auf dem 1. Arbeitsmarkt als Hemmnis
2.4 Hemmnisse bei der beruflichen Eingliederung auf den 1. Arbeitsmarkt: Der Mensch mit Behinderung als “ökonomisches Defizitwesen”
2.5 Hemmnisse bei der Umsetzung des in der UN-Behindertenrechtskonvention verankerten Menschenrechts auf selbstbestimmte Ausgestaltung des Lebensbereichs “Wohnen”
2.6 Ressourcenvorbehalt sowie unzureichende Planung und Koordination der zukünftigen Lehrerausbildung als Hemmnisse beim Aufbau eines inklusiven Schulwesens
2.7 Wachstums- und Wettbewerbshysterie in einer globalisierten Welt als Hemmnisse beim Aufbau einer inklusiven Gesellschaft
3. Chancen bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention
4. Fazit
1. Die UN-Behindertenrechtskonvention als behindertenpolitischer Meilenstein und ein lebensqualitätssteigernder Aufbruch in eine neue Zeit
Auch wenn die UN-Konvention in den öffentlichen Medien eine geringe Beachtung fand und die Ratifizierungsdebatte im Deutschen Bundestag im Dezember 2008 nach 23 Uhr vor nahezu leeren Bänken stattfand, stellt sie auf dem Fundament des vollzogenen Paradigmenwechsels dennoch einen unvergleichlichen Meilenstein in der Behinderten- und Sozialpolitik auf internationaler Ebene dar. In der Sprache der wissenschaftlichen Physik könnte man im übertragenen Sinne auch von einem Quantensprung sprechen. Dabei geht es in ihren einzelnen Artikeln um den konsequenten Abbau aller Barrieren in den verschiedenen Lebensbereichen unserer Gesellschaft, wodurch schließlich soziale Abhängigkeiten abgebaut werden und eine erhebliche Steigerung der Lebensqualität und der gesellschaftlichen Teilhabe im Sinne einer vollständigen sozialen Partizipation von Menschen mit Behinderung herbeigeführt werden soll.
Nach der erfolgten Ratifizierung am 26. März 2009 handelt es sich bei der UN-Konvention auch für die Bundesrepublik Deutschland um ein völkerrechtlich verbindliches Dokument, das keine gebietsmäßigen Einschränkungen kennt. Im Gegensatz zu deutschen Bundes- oder Landesgesetzen, die jeweils nur für Organe des Bundes oder eines Bundeslandes gelten, gilt die UN-Konvention flächendeckend für Bund, Land und alle kommunalen Gebietskörperschaften. Dabei wird es künftig für öffentliche Einrichtungen und Behörden nicht mehr so ohne weiteres möglich sein, mit dem Argument “Dafür ist jetzt kein Geld da!” bestimmte Zielsetzungen der UN-Konvention zu verhindern oder langfristig herauszuschieben. Gerade hier wird sich auch zukünftig für Politiker und Vertreter öffentlicher Einrichtungen mit diesem Argument ein Glaubwürdigkeitsproblem ergeben, hat doch die aktuelle Wirtschaftskrise deutlich werden lassen, dass man bei zuweilen auch fragwürdigen Rettungsaktionen von Banken innerhalb von wenigen Tagen viele Milliarden aufbringen konnte.
Wie schnell und intensiv die Zielsetzungen der UN-Konvention umgesetzt werden wird keineswegs nur an den Schalthebeln der Politik entschieden. Wenn wir uns dafür entscheiden, zum Beispiel nicht mehr länger Stabilisator des auf Minimalversorgung ausgerichteten Förder- und Rehabilitationssystems für Menschen mit Behinderung zu sein und jeder von uns sich in seinem Lebensbereich privat, beruflich und politisch-solidarisch für die Durchsetzung der Zielsetzungen der UN-Konvention einsetzt wird es der Politik langfristig auch nicht mehr gelingen, die inzwischen oft von politischer Seite geäußerte Behauptung aufrecht zu erhalten, dass mit den bestehenden Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland die Ziele der UN-Konvention bereits erfüllt seien. Es liegt an jedem einzelnen von uns, ob sich langfristig ein inklusionsorientierter, gesellschaftlicher Bewusstseinswandel herausbilden wird, auf dessen Grundlage ein gemeinsames inklusives Leben und Miteinander in den verschiedenen Lebensbereichen möglich wird.
Die gesellschaftlichen Strukturen sollen so gestaltet und verändert werden, dass sie der realen Vielfalt unterschiedlicher Lebenssituationen, gerade auch von Menschen mit Behinderungen, besser gerecht werden. Auch auf der individuellen Ebene überwindet die UN-Behindertenrechtskonvention den defizitorientierten Blick auf Menschen mit Behinderung. Auch hier entwickelt sie einen vielfaltorientierten Ansatz, das heißt Behinderung wird als normaler Bestandteil menschlichen Lebens und als Quelle kultureller Bereicherung verstanden.
2. Hemmnisse bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention – thesenhaft formuliert
2.1 Verharren in einem antiquierten, das heißt überkommenen Menschenbild von Menschen mit Behinderung als Hemmnis
Als sich im 19. Jahrhundert die Medizin als wissenschaftliche Disziplin etabliert hatte, widmete sie sich in zunehmendem Maße der Forschung am Menschen mit Behinderung. Dabei richtete die Medizin vornehmlich ihr Forschungsinteresse auf Menschen, die heute weitgehend immer noch als “geistig behindert” oder “psychisch krank” beziehungsweise “behindert” bezeichnet werden und die bereits zu der damaligen Zeit in ghettoisierenden Großanstalten, isoliert von der übrigen Gesellschaft, ihr trostloses Dasein erleiden mussten. Für die Mediziner handelte es sich bei dieser Klientel um Menschen, denen auf der physischen, psychischen, mentalen oder sinnesmäßigen Ebene etwas fehlte, über die die Mehrzahl der übrigen Menschen verfügte. Kranke und behinderte Menschen wiesen also bestimmte organische, psychische, mentale oder sinnesmäßige Defizite beziehungsweise Defekte auf, die es aus dem medizinischen Verständnis heraus zu heilen oder zumindest zu mindern galt. Damit war das defizitäre beziehungsweise defektorientierte Menschenbild der Medizin vom Menschen mit Behinderung geboren, wobei zudem Krankheit und Behinderung in ihrer defizitären Erscheinung gleichgesetzt wurden. Die gesellschaftlich anerkannte Autorität der medizinischen Wissenschaft hat somit schließlich bewirkt, dass diese menschenbildbezogene Sichtweise von der großen Mehrheit unserer Gesellschaft übernommen wurde und sogar die Heilpädagogik ihr pädagogisch-optimistisches Menschenbild zugunsten des defizitorientierten Menschenbildes der Medizin vom Menschen mit Behinderung aufgab.
An diesem historischen Erbe trägt unsere Gesellschaft immer noch – zumeist unbewusst – so schwer, dass heutzutage immer noch in Vorträgen und Veröffentlichungen, sogar von Behindertenorganisationen, von “den Gesunden” und “den Behinderten” die Rede ist. Das medizinisch diagnostizierte Defizit beziehungsweise der Defekt werden nicht nur von der Medizin, sondern nahezu von der gesamten Gesellschaft als die hauptsächlichen Wesenselemente angesehen, so dass es heute immer noch weit verbreitet ist, von “den Behinderten” und nicht von “den Menschen mit Behinderung” zu sprechen. Weiterhin werden das Defizit beziehungsweise der Defekt als eine “Abweichung von der Normalität” verstanden, wobei dadurch eine “Andersartigkeit” oder “Fremdartigkeit” empfunden wird, was das Erscheinungsbild des Menschen mit Behinderung prägt. Gleichzeitig führt dies dazu, dass der Mensch mit Behinderung nicht als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft angesehen wird. Hier wird noch ein langer Prozess der Bewusstseinsänderung notwendig werden, damit das defizitäre Menschenbild als Hemmnis bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention der Vergangenheit angehört.
2.2 Hemmnisse auf der behindertenpolitischen Ebene
Dass im Dezember 2008 kurz vor Weihnachten die Ratifizierungsdebatte zur UN-Behindertenrechtskonvention im Deutschen Bundestag erst kurz vor Mitternacht vor nahezu leeren Bänken im Plenarsaal stattfand und die Nachricht darüber in der Tagesschau der ARD nicht mehr als gerade einmal eine Minute wert war, lässt nicht auf die erhoffte politisch motivierte Aufbruchsstimmung schließen, die der Menschenrechtskatalog der UN-Behindertenrechts-konvention eigentlich hätte auslösen müssen. Dazu passt es gut ins Bild, dass die Bundesregierung erst mit einem Jahr Verzögerung ihren nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention vorgelegt hat. Dieser Plan wurde inzwischen von vielen Behindertenorganisationen als unausgewogen und halbherzig kritisiert, was zum Beispiel darin zum Ausdruck kommt, dass im Rahmen einer Selbstdarstellung in diesem Plan behindertenpolitische Projekte aufgeführt werden, die bereits weit vor der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention begonnen wurden und somit keine neue Initiative zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention darstellen. Statt einer solidarischen Kultur und einer behindertenpolitischen Aufbruchsstimmung ist hier vielmehr die Tendenz zu einer “Bewahrung des Bewährten” zu erkennen. Hierzu passt die von Politikerseite häufig gemachte Behauptung, dass mit den bestehenden Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland die Ziele der UN-Behindertenrechtskonvention bereits erfüllt seien. Setzt sich diese Meinung in der Bundesregierung durch, so würde dies nicht nur ein Hemmnis, sondern Stillstand in der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention bedeuten. Für diesen Fall bleibt nur zu hoffen, dass die Monitoringstelle des Instituts für Menschenrechte in Berlin, die die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention beobachtet und kontrolliert, die Bundesregierung dann schließlich eines Besseren belehren wird.
Ein weiteres Hemmnis bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention besteht in der Tatsache, dass die Bundesregierung das Ziel der Inklusion als vollständige Partizipation von Menschen mit Behinderung in allen Lebensbereichen im Rahmen ihrer behindertenpolitischen Maßnahmen vollständig ausklammert. So wurden in der deutschen Übersetzung der UN-Behindertenrechtskonvention die Begriffe “Inklusion” und “inklusiv” konsequent durch die Begriffe “Integration” und “integrativ” ersetzt. Hiermit bewahrt man wieder das Bewährte, ohne sich auf die umfassenderen Ziele der Inklusion nach Maßgabe der UN-Behindertenrechtskonvention einlasen zu wollen.
Auf der vom Bundesbehindertenbeauftragten für die Belange von behinderten Menschen bereits installierten Inklusionslandkarte gibt es noch sehr viele weiße Flecken: Behindertenbeauftragte und Behindertenbeiräte gibt es in sehr vielen Landkreisen und Kommunen noch gar nicht, was die notwendige Aufstellung von Aktionsplänen zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention weiter verzögert. So hat eine Recherche in den Kommunen des Main-Taunus-Kreises ergeben, dass sogar in etlichen Kommunen die UN-Behindertenrechtskonvention nicht einmal bekannt war, was ein langfristiges Verzögern der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in diesen Regionen zur Folge haben wird. Dieser Aspekt verschlimmert sich noch dadurch, dass manche Kommunen überhaupt keinen Behindertenbeirat einrichten wollen. Am Beispiel einer Kommune in Hessen wird diese Position mit der Aussage des Bürgermeisters bekräftigt: “Wir haben einen hervorragenden Sozialdezernenten, der genau weiß, was für Behinderte gut ist!” – eine Aussage aus Zeiten bevormundender Fürsorge, die man eigentlich für überholt zu halten glaubte.
2.3 Nichtbeachtung der UN-Behindertenrechtskonvention bei Maßnahmen auf Grundlage der gültigen Sozialgesetzgebung als schwerwiegendes Hemmnis
2.3.1 Selbstbestimmtes Wohnen mit persönlicher Assistenz
Immer wieder verweigern die örtlich zuständigen Sozialbehörden Menschen mit Behinderung ihr in der UN-Behindertenrechtskonvention festgeschriebenes Recht auf selbstbestimmtes Wohnen mit persönlicher Assistenz. Insbesondere im Falle von schwerst mehrfachbehinderten Menschen, die einen besonders hohen persönlichen Assistenzbedarf haben, vergleichen die Sozialbehörden die anfallenden Kosten im Falle einer Heimunterbringung mit den Kosten einer persönlichen Assistenz im Rahmen eines selbstbestimmten Wohnens. Dabei kommen sie häufig zu dem Schluss, dass die Heimunterbringung weniger Kosten verursacht als der persönliche Assistenzbedarf im Rahmen des selbstbestimmten Wohnens und verweigern den Wechsel des Lebensortes vom Heim in eine eigene Wohnung beziehungsweise in eine Wohngemeinschaft. Dabei wird auch häufig die diesbezügliche Entscheidung des Menschen mit Behinderung, selbstbestimmt mit Assistenz zu wohnen, als rechtlich unwirksam interpretiert, da man dem Antragsteller zum Beispiel aufgrund einer geistigen Behinderung die willentliche Entscheidungsfähigkeit rundweg abspricht. Beruft sich die Sozialbehörde dann auch noch auf die Bestimmungen der gültigen Sozialgesetzgebung, wird damit bewusst, dass das in der UN-Behindertenrechtskonvention verankerte Menschenrecht auf selbstbestimmtes Wohnen ignoriert und damit verletzt wird.
2.3.2 Willkürliche Festsetzung des Kostensatzes für die Finanzierung einer Arbeitsassistenz im Rahmen einer beruflichen Integrationsmaßnahme auf dem 1. Arbeitsmarkt als Hemmnis
Als Antragssteller erleben Menschen mit Behinderung im Rahmen einer beruflichen Eingliederungsmaßnahme bezüglich der Kostenübernahme für die Arbeitsassistenz ein oft monatelanges Geschacher zwischen verschiedenen Rehabilitationsträgern (zum Beispiel Integrationsamt und Deutsche Rentenversicherung), bis eine eindeutige Entscheidung gefällt wird. Dabei gefährdet dieser lange Zeitraum in erheblichem Maße den Erfolg der beruflichen Eingliederungsmaßnahme, weil der Zeitpunkt damit überschritten wird, zu dem der vorgesehene Arbeitsplatz besetzt werden soll. So wurden einer körperbehinderten Bewerberin (Rollstuhlnutzerin) auf einen Arbeitsplatz in einem kommunalen Museum erst nach drei Monaten und nach Einschaltung und Unterstützung durch einen Mitarbeiter des Landesbehindertenbeauftragten von Seiten der Deutschen Rentenversicherung in einem schriftlichen Bescheid die Übernahme von monatlich 550 Euro für eine Arbeitsassistenz zugesichert. Dabei wurde in Absprache mit der Bewerberin weder zuvor der individuelle Assistenzbedarf ermittelt beziehungsweise abgesprochen noch wurde ihr der Stundensatz mitgeteilt, der für solche Assistenzkräfte angesetzt wird. So war die Bewerberin mit dieser willkürlich festgesetzten Kostenzusage auch nicht in der Lage, die monatlich anfallenden Assistenzstunden zu ermitteln, für die die Kosten übernommen werden. An diesem Beispiel zeigt sich deutlich, dass im Rahmen von behördlichen Genehmigungsverfahren dieser Art nicht der behinderte Mensch mit seinen in der UN-Behindertenrechtskonvention verankerten individuellen Menschenrechten im Vordergrund rehabilitativen Bemühens steht, sondern vielmehr die möglichst knapp zugewiesenen Finanzmittel, deren Verwendungsart nicht einmal mitgeteilt wird. Zudem kann es geradezu als “bürokratische Verirrung” und als Hemmnis bei der beruflichen Eingliederung angesehen werden, wenn für die Assistenz bei zwei bis drei Toilettengängen pro Arbeitstag extra ein örtlicher Pflegedienst kommen muss, da dies nicht in den Aufgabenbereich einer Arbeitsassistenz fällt. Die aufzuwendenden Kosten für den Pflegedienst müssen dann auch noch aus dem für die Arbeitsassistenz zur Verfügung gestellten Budget finanziert werden, wodurch sich die wöchentliche Stundenzahl der eingesetzten Arbeitsassistenz entsprechend verringert, also weniger Unterstützungsleistungen möglich sind.
2.4 Hemmnisse bei der beruflichen Eingliederung auf den 1. Arbeitsmarkt: Der Mensch mit Behinderung als “ökonomisches Defizitwesen”
Gesetzlich ist festgelegt, dass in Deutschland jedes Unternehmen mit 20 Beschäftigten und mehr mindestens 5 Prozent der vorhandenen Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern besetzen muss. Da aber in der sozialen Marktwirtschaft die Vertragsfreiheit garantiert wird und somit jeder Arbeitgeber darüber autonom entscheiden kann, wen er einstellt und wen nicht, muss der Arbeitgeber für jeden nicht besetzten Schwerbehinderten-Pflichtarbeitsplatz eine monatlich fällige Ausgleichsabgabe in den Ausgleichsfonds zahlen. Diese Bestimmung hat allerdings bisher nicht zu einer erhöhten Beschäftigung von behinderten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in den Betrieben geführt, zumal die gezahlte Ausgleichsabgabe vom Arbeitgeber steuerlich abgesetzt werden kann und somit als eine verkraftbare Kostengröße angesehen wird. Förderprogramme in fast allen Bundesländern zur beruflichen Eingliederung schwerbehinderter Arbeitnehmer auf den 1. Arbeitsmarkt, ausgestattet jeweils mit etlichen Millionen, haben in den letzten Jahren nicht zu einer verbesserten Eingliederung schwerbehinderter Menschen auf den 1. Arbeitsmarkt geführt und selbst die aus ihnen finanzierten verlockenden Lohnkostenzuschüsse erbrachten kein Umdenken auf Seiten der Arbeitgeber. In dem Jahr 2009/2010 ist die allgemeine Arbeitslosigkeit aufgrund der verbesserten konjunkturellen Situation um 8,5 Prozent gefallen, wobei die Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Arbeitnehmer im gleichen Zeitraum um 5,6 Prozent stieg. Daher sind gegenwärtig über 180.000 schwerbehinderte Arbeitnehmer arbeitslos – eine Zahl, deren Senkung auf 100.000 die frühere rot-grüne Bundesregierung trotz vieler gesetzlicher Initiativen nicht vermocht hat.
Die Beantwortung der Frage, warum die meisten Arbeitgeber keine behinderten Arbeitnehmer beschäftigen wollen, ist in der Tatsache zu sehen, dass die meisten Arbeitgeber, beeinflusst durch das historische Erbe des defizit- und defektorientierten Menschenbildes von Menschen mit Behinderung sowie durch Unaufgeklärtheit, Voreingenommenheit und Vorurteile, potentielle behinderte Arbeitnehmer unter dem Prinzip der “Logik des Profits” für vermehrt krankheitsanfällig und leistungsschwach und damit schließlich für unrentabel halten. Vorurteilsbelastetes Profitdenken hat also hier einen höheren Stellenwert als das diesbezügliche Menschenrecht schwerbehinderter Arbeitnehmer. Hinzu kommt, dass viele Arbeitgeber über die Existenz und die Inhalte der UN-Behindertenrechtskonvention weitgehend unaufgeklärt sind.
2.5 Hemmnisse bei der Umsetzung des in der UN-Behindertenrechtskonvention verankerten Menschenrechts auf selbstbestimmte Ausgestaltung des Lebensbereichs “Wohnen”
Kommunale Wohnungsbauträger haben in der Regel bei Planung und Durchführung von Wohnungsbauprojekten auch ein gewisses Kontingent von barrierefreien Wohnungen vorgesehen. Dabei wird die Zahl der zu errichtenden barrierefreien Wohnungen mehr oder weniger willkürlich festgesetzt, da es statistisch abgesicherte Erhebungen zum tastsächlichen Bedarf in einer Kommune oder Region nicht gibt. Für die Bewerbung auf eine barrierefreie Wohnung beziehungsweise für deren Zuteilung ist in der Regel die Inhaberschaft eines Wohnbindungsscheins die Voraussetzung, der nur an mobilitätseingeschränkte Wohnungsbewerber vergeben wird, die nur über ein Einkommen auf Sozialhilfeniveau verfügen. Das heißt, dass ein mobilitätseingeschränkter Wohnungsbewerber zusätzlich zu seiner Behinderung auch noch arm sein oder erst werden muss, um in den Genuss der Zuteilung einer barrierefreien Wohnung überhaupt zu kommen. Dies führt zwangsläufig zur Ausgrenzung und Benachteiligung ebenfalls schwerbehinderter Wohnungsbewerber, die aufgrund der mit ihrer Behinderung verbundenen Mobilitätseinschränkung den gleichen Bedarf nach einer barrierefreien Wohnung haben, jedoch mit ihrem monatlichen Einkommen (zum Beispiel Erwerbsunfähigkeitsrente) über dem festgesetzten Sozialhilfesatz liegen. In der alltäglichen Praxis heißt dies, dass eine Frührentnerin von 48 Jahren aufgrund ihrer progredienten Multiplen Sklerose-Erkrankung erhebliche Mobilitätseinschränkungen zu verkraften hat und dringend auf eine barrierefreie Wohnung angewiesen ist, deren Zuteilung ihr allerdings erweigert wird, da sie mit ihrer Erwerbsunfähigkeitsrente 200 Euro über dem Sozialhilfesatz liegt und deshalb keinen Wohnbindungsschein erhält. So lebt sie jetzt bereits seit zwei Jahren als “Gefangene” in ihrer Hochparterre-Wohnung, die sie aufgrund fehlender einschlägiger Unterstützungsdienste schon seit zwei Jahren nicht mehr verlassen konnte.
2.6 Ressourcenvorbehalt sowie unzureichende Planung und Koordination der zukünftigen Lehrerausbildung als Hemmnisse beim Aufbau eines inklusiven Schulwesens
Obwohl der Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf das uneingeschränkte Recht einräumt, das allgemeinbildende Schulwesen gemeinsam mit Kindern ohne sonderpädagogischen Förderbedarf zu besuchen, hält sich die Hessische Landesregierung in diesem Punkte eine Hintertür offen, um das bestehende Förderschulsystem in seiner Existenz langfristig nicht zugefährden. So heißt es im neuen Hessischen Schulgesetz, dass eine Regelbeschulung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf möglich ist, wenn die notwendigen räumlichen, finanziellen und sächlichen Ressourcen vorhanden sind. Nach dieser Formulierung kann also für diesen Fall, dass die entsprechenden Ressourcen an der zuständigen Schule nicht vorhanden sind, ein Kind mit sonderpädagogischen Förderbedarf der regional zuständigen Förderschule zugewiesen werden. Die Beschulung in der Regelschule wäre in solchen Fällen also nur auf dem Klageweg zu erreichen, wobei die ersten derartigen und von den Eltern nahezu ausnahmslos gewonnenen Prozesse zeigen, dass die Richter schon sichtbar stärker auf der Seite der UN–BRK stehen als vage Hintertür-Formulierungen im Schulgesetz durch entsprechende Urteile zu zementieren.
Ein weiteres Hemmnis beim Aufbau eines inklusiven Schulwesens stellen die Lehrerausstattung an den Regelschulen und die Lehrerbildung an den universitären Hochschulen dar. Das ursprüngliche Team-Teaching von Regelschul- und Förderschullehrern im integrativen Unterricht gehört inzwischen aus Kostengründen weitgehend der Vergangenheit an. Stattdessen werden gegenwärtig Förderschullehrer allenfalls als Ambulanzlehrer an den Regelschulen eingesetzt, wobei ihr wöchentliches Stundenkontingent bis heute ständig reduziert wurde. In diesem Prozess entwickelt sich der Förderschullehrer schließlich zu einem reinen Beratungslehrer, der als Lehrermitglied eines Beratungs- und Förderzentrums tätig ist, und den Regelschullehrern nur noch im Rahmen einer heilpädagogischen Beratungsdienstleistung zur Verfügung steht, selbst aber das inklusive Unterrichtsgeschehen nicht mitgestaltet. Statt gemäß des Artikels 24 der UN-Behindertenrechtskonvention den inklusiven Unterricht stufenweise auf- und auszubauen, wird sich durch diese finanziell motivierten Reduzierungsprozesse die bisherige Qualität des integrativen Unterrichts schrittweise verschlechtern, was sich zusätzlich noch durch die Reduzierung der Unterrichtshelfer (Integrationshelfer und Integrationsfachkräfte) in vielen Bundesländern weiter zuspitzt. Mit dieser Entwicklung entsteht nicht nur ein erhebliches Hemmnis im Aufbau und Ausbau des inklusiven Unterrichts, sondern seine Realisierung rückt in fernere Zukunft. Zudem untergräbt die in den Schulgesetzen verankerte freiwillige Entscheidung der einzelnen Schule, inklusiven Unterricht anzubieten oder nicht, die von der UN-Behindertenrechtskonvention ausgelöste Hoffnung, dass inklusiver Unterricht in absehbarer Zeit eine Selbstverständlichkeit wird.
Ein weiteres Hemmnis zum Aufbau inklusiver Schulstrukturen besteht in der Tatsache, dass aufgrund einer in den nächsten fünf Jahren anstehenden großen Pensionierungswelle bei Lehrkräften aller Schulformen die einzelnen Bundesländer darauf überhaupt noch nicht vorbereitet sind und entsprechende Gegensteuerungsmaßnahmen ergriffen haben, zumal von vielen Studierenden aufgrund der Verschlechterung des Sozialklimas in vielen Schulen durch respektloses, beleidigendes und sogar gewalttätiges Schülerverhalten der Lehrerberuf immer weniger als attraktiv empfunden wird.
Schließlich werden gegenwärtig trotz des anstehenden Lehrermangels aufgrund der knappen finanziellen Ressourcen in den Universitäten verschiedener Bundesländer die Studiengänge für die einzelnen sonderpädagogischen Fachrichtungen stark reduziert oder sogar eingefroren, in dem freiwerdende Professorenstellen nicht mehr besetzt werden oder die entsprechenden Lehrveranstaltungen nur noch unzureichend durch Lehrbeauftragte aufrecht erhalten werden.
Hinter all diesen Maßnahmen und Prozessen ist nicht zu erkennen, dass man in der Bundesrepublik Deutschland an einem sich entwickelnden und gut funktionieren inklusiven Schulwesen, wie es in Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention als Menschenrecht international verankert ist, wirklich interessiert ist.
2.7 Wachstums- und Wettbewerbshysterie in einer globalisierten Welt als Hemmnisse beim Aufbau einer inklusiven Gesellschaft
Im Prozess der weltweiten Globalisierung hat sich international inzwischen ein gnadenloser und weltweiter Wettbewerb entwickelt, bei dem es vorrangig um das jährliche wirtschaftliche Wachstum der einzelnen Staaten im Vergleich geht. Die Logik des Profits auf Seiten der Unternehmerschaft, der stressbehaftete Weg nach höheren Bildungs- und Qualifikationsabschlüssen sowie das auf der individuellen Ebene internalisierte, erfolgsorientierte Leistungsdenken und –handeln haben unsere Gesellschaft in eine Situation gebracht, in der egoistisches Karriere- und Profitstreben und die damit verbundenen Ellenbogenstrategien und Rücksichtslosigkeiten mitmenschliche Eigenschaften wie Zuwendungsbereitschaft, Achtung und solidarisches Handeln gegenüber den Schwächeren immer mehr haben einfrieren lassen. Respektlosigkeit, Gewaltbereitschaft und Demütigungen auch jüngerer gegenüber älteren Schülern und Lehrern nehmen im Unterricht und vor allem in den Pausen auf den Schulhöfen zu, wobei sich insbesondere auf den Schulhöfen im Bereich sozialer Brennpunkte zum Teil schon bürgerkriegsähnliche Zustände abspielen.
Auch oft traumatisierende Mobbingprozesse in den Schulen und Betrieben weiten sich aus, wobei sich diese zumeist gegen Schwächere richten, die in einzelnen Fällen nur noch im vollzogenen Suizid einen Ausweg gesehen haben. Auf diesem realitätsbezogenen Hintergrund klingt dann die Verkündung der romantisch-fundamentalistischen Inklusionstheoretiker, “In einer inklusiven Schule sind alle Kinder herzlich willkommen”, insbesondere gegenüber den Mitschülern mit Behinderung wie blanker Hohn, denn diese oftmals als andersartig oder fremdartig empfundenen Kinder sind oft die ersten Opfer von Demütigungen und traumatisierenden Mobbingprozessen.
Der Druck des PISA-Fiebers und die erheblich gestiegenen und komprimierten Anforderungen an die Schüler in den G8-Gymnasien haben bei einer erheblichen Zahl von Schülern bereits zu psychischen Problemen oder gar Erkrankungen geführt, wie man insbesondere an der gestiegenen Zahl der therapiebedürftigen Kinder und Jugendlichen sehen kann. Nicht nur Mitarbeiter in Betrieben, sondern auch Lehrkräfte der unterschiedlichen Schulformen werden in zunehmender Zahl vom Burn out-Syndrom befallen und können ihr Leben oft zumeist durch die damit verbundenen Depressionen in der gewohnten Alltagsnormalität nicht mehr gestalten.
Auf diesem Hintergrund stellt sich die berechtigte Frage, ob eine solche Gesellschaft, die ihre Mitglieder hauptsächlich nach Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft und somit schließlich nach ihrer effektiven ökonomischen Verwertbarkeit nach dem Aschenputtel-Prinzip “die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen” (aus-)sortiert, überhaupt inklusive Strukturen des Zusammenlebens in allen Lebensbereichen erzeugen und praktizieren kann. Kann sich eine Gesellschaft wirklich zu einem inklusiven Lebensmodell entwickeln, die einem Teil ihrer mit dem Stigma der geringeren ökonomischen Verwertbarkeit belegten Mitglieder menschliche Grundbedürfnisse wie Sicherheit, Geborgenheit, Zuwendung, Wertschätzung und Achtung versagt? Sind dies schließlich nicht nur Träume von Inklusionstheoretikern, deren Inklusionstheorie einem romantischen Fundamentalismus entsprungen ist und die auf visionären Wolken schweben, deren Nebelschleier für sie die gesellschaftlichen Realitäten, über die sie auch in ihren Theoriebeiträgen nicht reden, unsichtbar machen?
3. Chancen bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention
Die erste und grundlegende Chance für den langfristigen Aufbau einer inklusiven Gesellschaft, in der die Menschen mit Behinderung eine erhebliche Steigerung ihrer Lebensqualität durch volle soziale Partizipation erreichen, liegt in der erfreulichen Tatsache, dass es nach jahrhundertelanger bevormundender Fürsorge die UN-Behindertenrechtskonvention als international verankertes Menschenrecht überhaupt gibt. Dabei zeigt die halbherzige und zögerliche Haltung der Politik bezüglich der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention deutlich, dass mit ihrer Ratifizierung keineswegs ein Chancenautomatismus gegeben ist. Vielmehr ist die UN-Behindertenrechtskonvention lediglich ein international verankertes Menschenrechtsdokument, dessen Zielsetzungen nur durch einen langfristigen und beharrlichen behindertenpolitischen Kampf in einer demokratischen Gesellschaft durchgesetzt und erreicht werden können. Dabei werden die Selbsthilfe- und Behindertenorganisationen nicht umhin können, ihr behindertenpolitisches Bewusstsein grundlegend zu ändern, in dem sie sich in ihrem Bewusstsein von dem historischen Erbe, lediglich dankbare Empfänger bevormundender Fürsorge zu sein, endgültig verabschieden und sich stattdessen als politische Pressure-Group neu zu formieren. Im Rahmen dieses Prozesses der Bewusstseinsänderung muss eine allgemeine Aufbruchsstimmung entstehen, mit der die Behindertenpolitik eine völlig neue und aktivere Richtung bekommt, in dem aus passiven und oft in Lethargie verhafteten, dankbaren Empfängern von Sozialleistungen aktive Mitgestalter bei der Umsetzung der Zielsetzungen der UN-Behindertenrechtskonvention werden. Dazu bedarf es des Aufbaus einer solidarischen Kultur, in dem die Selbsthilfe- und Behindertenorganisationen sich zur Durchsetzung ihrer berechtigten Interessen andere Organisationen wie die Kirchen und Sozial- und Wohlfahrtsverbände mit ins Boot holen. Weiterhin kann sich der Erfolg behindertenpolitischer Bemühungen langfristig auch nur dann einstellen, wenn die Selbsthilfe- und Behindertenorganisationen sich des Systems des Lobbyismus bedienen und somit stets die beeinflussende Nähe zu den Politikern suchen, die in einem demokratischen Staatswesen die letzten Entscheidungen zu fällen haben. Realistische Chancen zur Umsetzung der Zielsetzungen der UN-Behindertenrechtskonvention ergeben sich, wenn folgende Vorschläge mit in das behindertenpolitische Kalkül aufgenommen werden:
- Die Leitungsebene von Selbsthilfe- und Behindertenorganisationen, aber auch möglichst viele ihrer Mitglieder, sollten regelmäßig an Aufklärungs- und Fortbildungsveranstaltungen zur UN-Behindertenrechtskonvention teilnehmen, wie sie zum Beispiel vom Hessischen Sozialministerium, von kirchlichen Bildungsträgern oder auch von einzelnen Parteien veranstaltet werden. Mit der Weiterverbreitung dieses Wissens an die Mitglieder sollte sich langfristig ein Bewusstseinswandel einstellen, der dazu beiträgt, aus der oftmals vorhandenen Lethargie (“Man kann ja ohnehin nichts machen!”) herauszukommen und die Einsicht zu gewinnen, dass ein neues Bewusstsein, im solidarischen Gesamtinteresse zu handeln, eine weitaus größere Chance bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention darstellt als statt dessen wie oftmals bisher auf die egoistischen Einzelinteressen und ihre Durchsetzung fixiert zu bleiben.
- Wichtig ist es, dass sich auch auf Seiten der Menschen mit Behinderung durch einen Bewusstseinsänderungsprozess die Sichtweise von der eigenen Behinderung ändert, in dem nach entsprechender Auseinandersetzung darüber in Fortbildungsmaßnahmen Menschen mit Behinderung den neuen gesellschaftskritischen Behinderungsbegriff der UN-Behindertenrechtskonvention internalisieren und dadurch auch den vormals für sie gültigen defizitären Behinderungsbegriff ablegen können, was schließlich zu einer Steigerung des Selbstwertempfindens führen kann. Hier haben die Selbsthilfe- und Behindertenorganisationen eine wichtige Aufgabe zu erfüllen, in dem sie selbst entsprechende Fortbildungsmaßnahmen initiieren oder zumindest zu ihrem Besuch anregen und anschließend den Wandel des Behinderungsbegriffes auch kritisch reflektieren. Dadurch entsteht schließlich in den Menschen mit Behinderung eine sensiblere und kritische Einstellung zu gesellschaftlich bedingten Barrieren, die es durch politisches Handeln zu beseitigen gilt.
- Die Selbsthilfe und Behindertenorganisationen einer Region sollten sich durch entsprechende aufklärende Aktivitäten um mehr politischen Einfluss bemühen, in dem sie bei den Kommunen und Landkreisen vorstellig werden, damit zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention Behindertenbeiräte auf kommunaler Ebene und Landkreisebene eingerichtet werden. Je mehr Menschen mit Behinderung sich innerhalb einer Kommune oder eines Landkreises dazu entschließen, politisch tätig zu werden und auch in einer der Parteien ein politisches Amt zu übernehmen, umso größer wird der Einfluss für die Einrichtung solcher politischer Gremien, in denen Menschen mit Behinderung als “Experten in eigener Sache” ihre politischen Interessen formulieren und schließlich auch gegebenenfalls durchsetzen können.
- Die Dachverbände der Selbsthilfe- und Behindertenorganisationen (zum Beispiel Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband, Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe Behinderter und chronisch Kranker und andere) sollten ein großes Netzwerk “Menschenrecht Inklusion” planen und schaffen, das auf dem Wege der Internet-Kommunikation weitverzweigte Kooperationsstrukturen schafft, über Kooperationsmöglichkeiten informiert und den Zugriff auf umfangreiches Informationsmaterial über örtliche Projekte und Vorhaben oder über bereits erarbeitete Aktionspläne zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention möglich macht. Solange jeder kaum etwas vom anderen weiß, bleibt man auf den eigenen Horizont beschränkt und kann wertvolle Kooperationsmöglichkeiten und politische Aktivitäten und Initiativen mit anderen nicht wahrnehmen. Weiterhin bietet dies die Möglichkeit, über den eigenen Tellerrand, der ja die Aktivitäten auf die eigenen Einzelinteressen beschränkt, hinauszublicken und die menschenrechtlichen Belange von Menschen mit Behinderung als gesellschaftlichen Gesamtkomplex im Aufbauprozess einer solidarischen Kultur in den Blick zu nehmen und danach zu handeln.
- Die Dachverbände der Selbsthilfe- und Behindertenorganisationen sollten dem Beispiel des Deutschen Vereins für Blinde und Sehbehinderte in Studium und Beruf (DVBS) folgen und eine organisationsübergreifende Rechtsberatungsgesellschaft “Rechte behinderter Menschen” gründen, deren Arbeitsstab vorwiegend aus Menschen mit Behinderung besteht, die als Fachjuristen auf dem Gebiet des Sozialrechts ausgebildet sind und als “Experten in eigener Sache” das Phänomen Behinderung in seiner Komplexität durch die eigene Betroffenheit nachvollziehen können. Neben der Rechtsberatung und gerichtlichen Vertretung von Selbsthilfe- und Behindertenorganisationen, aber auch von Einzelpersonen bei Verstößen gegen Artikel der UN-Behindertenrechtskonvention sollten gemeldete Verstöße gegen die Ziele der UN-Behindertenrechtskonvention aus systematisch gesammelt, ausgewertet und jedes Jahr einmal weitergemeldet werden an das Institut für Menschenrechte in Berlin, dessen Monitoringstelle die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention beobachtet und kontrolliert.
- Die Selbsthilfe- und Behindertenorganisationen sollten mehr und regelmäßiger als bis jetzt an die Öffentlichkeit treten, in dem sie regelmäßigen Kontakt zur örtlichen Presse, aber auch zu den anderen öffentlichen Medien aufnehmen. So können Berichte über ihre Arbeit, das Aufdecken und die Veröffentlichung von örtlich gegebenen Missständen bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, aber auch autobiographische Berichte über die eigenen Beeinträchtigungen im Wechselspiel mit den gesellschaftlich noch vorhandenen Barrieren schrittweise zu einer Bewusstseinsänderung in der Bevölkerung beitragen. Dadurch können schließlich immer noch vorhandene Mentalbarrieren in Gestalt von Vorurteilen, Unaufgeklärtheit und Voreingenommenheiten sowie das sich immer noch hartnäckig haltende defizitäre Menschenbild vom Menschen mit Behinderung beseitigt werden.
- Bei der Umsetzung der Zielsetzungen der UN-Behindertenrechtskonvention dürfen die Selbsthilfe- und Behindertenorganisationen nicht nur auf die Wahrung der Interessen ihrer Mitglieder fixiert bleiben. Im Rahmen einer aufzubauenden solidarischen Kultur dürfen sie die neuen gesellschaftlichen Entwicklungen nicht aus dem Blick verlieren. Aufgrund des demografischen Wandels und der Zunahme von älteren Menschen, die mit zunehmendem Alter häufig von Mobilitätseinschränkungen, chronischen Krankheiten oder Demenz betroffen sind, wächst hier eine Seniorengeneration heran, die als “vergessene Minorität” bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention häufig vergessen wird. Hier haben die Selbsthilfe- und Behindertenorganisationen eine gesellschaftliche Aufgabe wahrzunehmen und Initiativen und behindertenpolitische Maßnahmen zu entwickeln, mit denen die inzwischen häufig beeinträchtigte Lebensqualität dieser älteren Menschen wieder hergestellt wird und ihnen die Menschenrechte nach der UN-Behindertenrechtskonvention gesichert werden. Hier ist auf Seiten der Selbsthilfe- und Behindertenorganisationen noch viel Ideenreichtum, Motivation und Innovationskraft erforderlich, um diese zukünftige Aufgabe angehen und bewältigen zu können.
4. Fazit
Die aufgezeigte gesellschaftliche Situation zeigt deutlich, dass es keinen Automatismus gibt, auf dessen Basis die UN-Behindertenrechtskonvention in ihren Zielsetzungen umgesetzt wird. Vielmehr muss es das selbstbestimmte Leben von Menschen mit Behinderung sein, dass die UN-Behindertenrechtskonvention ihnen als Menschenrecht garantiert, auf dessen Grundlage Menschen mit Behinderung mit eigener Motivationskraft, mit Ideenreichtum und Innovationsimpulsen im Rahmen einer solidarischen Kultur die Durchsetzung der ihnen international garantierten Menschenrechte selbst engagiert in die Hand nehmen und somit sicherlich noch einen langen Weg beschreiten, um das Ziel einer inklusiven Gesellschaft Stück für Stück irgendwann zu erreichen.
Vortrag zur Fachtagung “Grenzenlos leben?” am 6. und 7. Dezember 2011 in Hofgeismar.
Es gilt das gesprochene Wort.